Dr. Christian Clemen ist leitender Oberarzt der Kinderchirurgie an der Kinderklinik Dortmund und betreut dort seit 2018 die Spina bifida Ambulanz. Darüber hinaus ist er Vater einer Tochter mit Spina bifida. Im Rahmen der Fachtagung der SBHC NRW e.V. berichtete er daher nicht nur aus medizinischer Sicht, sondern teilte auch seine Erfahrungen als Vater eines behinderten Kindes.

Die Frage „Wie geht‘s weiter“ bezieht sich auf die Zeit des Erwachsenwerdens.

Die Hormonausschüttung in Thalamus und Hypophyse erfolgt durch den höheren Druck im Gehirn zu früh. Eierstöcke und Hoden werde zu früh aktiviert. Besonders bei Mädchen mit Spina bifida kommt diese „pubertas praecox“ häufig vor, sodass die Regelblutung zum Teil schon mit acht Jahren einsetzt. Damit einhergehend ist das Ende des Wachstums. Die Eltern sollten daher auf Anzeichen wie Brustwachstum oder Schambehaarung achten.

Während im Kindesalter noch Shunt Komplikationen die größte Gefahr für das Leben ist, so sind es später eher die Nierenprobleme. Der Schutz der Nieren sei daher „oberstes Gebot“.

Bei den Verlaufskontrollen ist eine gründliche Anamnese besonders wichtig. Dazu gehören Ultraschall, eine Kontrolle des Blutdrucks, die Erhebung der wichtigen Laborwerte (für die Niere wichtige Werte: Kreatinin und Cystatin C und Elektrolyte), Urinuntersuchungen, die Erörterung des Darmmanagements, Blasendruckmessung, bei Harnstau gegebenenfalls eine Nierenszintigraphie, die Überprüfung der Medikation der Blase (Anticholinergika) und nicht zuletzt die Krebsvorsorge. Diese Kontrollen sollten während des gesamten Erwachsenenlebens beibehalten werden.

Bei der Frage „wie geht es weiter“ geht es auch um das Thema Inklusion. Das beginnt schon damit, dass eine Kindertagesstätte gefunden werden muss, in der das Kind katheterisiert werden kann. Ein Pflegedienst muss gefunden werden, der diese Aufgabe übernimmt – was nicht einfach ist. Leichter ist es, wenn die KiTa eine Inklusionskraft beantragt. Die unbürokratische Lösung, bei der einfach das KiTa-Personal angelernt wird, steht und fällt mit der Bereitschaft der Erzieher*innen, sich darauf einzulassen.

In der (Regel-)Schule setzt sich das Problem fort: Schulbegleiter dürfen per Gesetz keine pflegerischen Tätigkeiten ausüben – also weder Medikamente geben noch katheterisieren, und für Pflegedienste rechnet sich der Aufwand nicht – dürfen sie doch für einen zeitlichen Aufwand von 45 bis 60 Minuten nur 17€ mit der Kasse abrechnen.

So bleibt das Katheterisieren (zumindest so lange, bis das Kind das selbst erledigen kann) Sache der Eltern, die häufig mit diesem Problem allein gelassen werden.

Um die Barrierefreiheit an Schulen ist es ebenfalls noch nicht gut bestellt. Dr. Clemen berichtete von seinem Wohnort Dortmund – vermutlich ist es in den meisten Städten ähnlich:

Bereits als seine Tochter 2 ½ Jahre alt war, setzte er sich mit in Frage kommenden Grundschulen in Verbindung. Drei der Schulen lehnten die Aufnahme ab. Im darauffolgenden Jahr wurde ein Antrag auf einen Fahrstuhl und den barrierefreien Umbau der Schule gestellt, der wiederum ein Jahr später genehmigt wurde. Noch vor der Einschulung wurde ein Raum für die Pflege umgebaut, der Fahrstuhl war jedoch erst zu Beginn der zweiten Klasse betriebsbereit. In der weiterführenden Schule setzt sich die Problematik fort: fünfzehn Jahre nach der UN-Konvention von 2009 sind 40% der weiterführenden Schulen und 26% der Grundschulen barrierefrei.

Ähnlich traurig sieht es mit dem ÖPNV aus. Am Beispiel Dortmunds: seit 2018 sind am Hauptbahnhof die Aufzüge im Bau (!) – Die Fertigstellung sollte zur bis zur Fußball-EM 2024 sein…

Mit dem Bus zur Schule zu fahren, berge ebenfalls Probleme, denn es komme regelmäßig vor, dass seine Tochter an der Haltestelle stehen gelassen wird. Entweder ist der Bus zu voll oder die Rampe kann nicht ausgeklappt werden. Etwas scheinbar simples, wie die Anhebung des Gehweges an der Zielhaltestelle erfordert einen verwaltungstechnischen Kraftakt mit Beteiligung zahlreicher Sachbearbeiter, Behindertenbeauftragter, dem Tiefbauamt – vermutlich sei die Haltestelle fertig, wenn seine Tochter die Schule bereits wieder verlassen hat.

Das Leben mit der Behinderung bedeutet eine große emotionale Belastung – für die ganze Familie. Bereits im Alter von acht Jahren wird Kindern die Belastung durch die eigene Behinderung bewusst. In der Pubertät kann es zur Identitätskrise kommen, Ängste, Aggression und Zwänge können entstehen. Geschwisterkinder fühlen sich benachteiligt, müssen vielleicht zurückstecken. Die Eltern müssen Wege finden, ihre Lebensplanung an die neue Situation anzupassen.

Die Familien sollten sich nicht scheuen, psychologische Unterstützung zu suchen. Auch die Verhinderungspflege kann hier helfen, indem sie die Möglichkeit bietet sich Freiräume zu schaffen.

Das Ziel ist, dass das behinderte Kind weitgehende Selbstständigkeit erlangt und trotz der Behinderung seinen Platz mitten in der Gesellschaft findet. Wege dorthin sind der Selbstkatheterismus und Rollstuhlworkshops um unabhängig zu werden – und gemeinsamer inklusiver Sport. Angebote wie Rollstuhlbasketball, Rollstuhltennis oder Wheelsocker gibt es bereits für Kinder.