In diesem Jahr hatten wir Frau Dr. Samis Zella bei unserem Familienseminar in Much zu Gast. Frau Dr. Zella ist Fachärztin für Neurologie und Neurochirurgie, ist als Oberärztin an der LVR Klinik Langenfeld tätig und leitet dort das medizinische Zentrum für Erwachsene mit Behinderung (MZEB).

Die Fragestellung, wie der Spagat zwischen einer guten Förderung einerseits und dem Vermeiden einer Überforderung andererseits zu bewältigen ist, hat uns als Eltern von inzwischen heftig pubertierenden Kindern schon lange beschäftigt. Von den offensichtlichen Beeinträchtigungen bei Spina bifida abgesehen, ist da schließlich auch noch der Hydrocephalus, der sich mehr oder weniger stark äußern kann.

Zum besseren Verständnis der Situation erklärte Frau Dr. Zella daher zunächst das neurobiologische Profil bei Menschen mit Spina bifida und Hydrocephalus.

Besonderheiten bei Kindern mit Spina bifida

Häufig zeigen sie eine sehr hohe sprachliche Kompetenz. Dies kann irreführend sein, da sie oftmals nicht mit der Kognitionsfähigkeit korrespondiert. Die Kinder werden aufgrund ihrer sprachlichen Fähigkeiten also häufig überschätzt.

Im Bereich Mathematik ist es vielfach so, dass sie zwar gut rechnen können, aber nicht gut in der Lage sind, komplexere Aufgaben zu lösen. Der Transfer eine Textaufgabe zu einer reinen Rechenaufgabe zum Beispiel ist häufig nicht möglich.

Auswendiglernen oder gerade Gehörtes zu wiederholen klappt meistens ganz gut, aber Gelerntes später zu reproduzieren gelingt oft schlechter. Das Arbeitsgedächtnis ist gut, Kinder kommen in der Schule gut mit und können gut lernen – wichtig ist nur, dass man den richtigen Weg findet, ihnen den Lernstoff zu vermitteln.

Schwierigkeiten haben Menschen mit Spina bifida und Hydrocephalus jedoch mit den Exekutivfunktionen (weitere Infos im Blog-Beitrag der Spina bifida Beratung), was zum Beispiel dazu führen kann, dass sie nicht gut Entscheidungen treffen können.

Eine Neigung zu Depressionen und Angststörungen sei auch belegt, allerdings merkte Frau Dr. Zella hier an, dass dies wohl weniger organisch begründet sei, als viel mehr den Lebensumständen und insgesamt der Belastung durch die Behinderung geschuldet. Kinder, die in einem positiven, fördernden Umfeld leben und sich angenommen und wohl fühlen, zeigen diese Neigung nicht.

Zum besseren Verständnis, was die Bewältigung eines normalen Schultages für unsere Kinder bedeutet, legte sie dar, dass es aufgrund der körperlichen Einschränkungen (Orthesen oder Rollstuhlnutzung) sehr viel anstrengender sei etwas zu erreichen (Wege innerhalb der Schule, Bewegung zum und auf dem Schulhof), sodass sie am Ende des Schultages auch körperlich müder sind als Kinder ohne Beeinträchtigung. Auch die Störung der Blasen- und Darmfunktion belastet die Kinder in der Schule: die zweite Pause wird oft von der Blasenversorgung aufgezehrt, sodass die Erholung in der zweiten Hälfte des Schultages wegfällt.

Hinzu kommt die Belastung durch den Hydrocephalus. Aufgrund der Zirkulationsstörung der Hirnflüssigkeit funktioniert nicht nur das Gedächtnis anders als bei anderen Menschen. Es kommt zudem zu einer Störung der Stressregulation. Die sogenannte HPA-Achse (Hipothalamic-Pituitary-Adrenal-axis, dt. Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenrinden-Achse) ist ein wichtiges Kommunikationssystem im Körper, das vor allem bei Stress aktiv wird:

  1. Der Hypothalamus, eine Region im Zentrum des Gehirns, unmittelbar oberhalb des dritten Ventrikels, registriert Stress und schickt ein Hormonsignal.
  2. Die Hypophyse (Hirnanhangdrüse) empfängt dieses Signal und sendet ein weiteres Hormon aus.
  3. Die Nebennierenrinde produziert daraufhin das „Stresshormon“ Cortisol.

Vereinfacht gesagt, ist die HPA-Achse eine Alarmkette im Körper, die durch Stress (Gefahren z.B. in Form von Klassenarbeiten oder Prüfungssituationen) aktiviert wird und den Körper in erhöhte Wachsamkeit und Leistungsbereitschaft versetzt. Eine Rückkopplungsschleife drosselt die Cortisolproduktion, wenn genug davon im Blut ist.

Durch den Hydrocephalus kann z.B. eine Schädigung der zuständigen Hirnareale vorliegen, die ihre Funktion beeinträchtigt: der Hypothalamus liegt in unmittelbarer Nachbarschaft des 3. Ventrikels, sodass sich Druckschwankungen und Schädigungen des Gewebes hier besonders bemerkbar machen können. Die Rückkopplung, die die Cortisolausschüttung drosselt, arbeitet verzögert oder schlechter, sodass auch nach dem Ende der Belastung der Spiegel des Stresshormons im Blut noch länger erhöht ist.

Frau Dr. Zella erklärte, dass es bei Kindern mit Spina bifida und Hydrocephalus rasch zu einem steilen Anstieg des Cortisolspiegels kommt, und dass dieser auch am Ende der Belastung (z.B. nach einer Klassenarbeit) nicht so schnell sinkt. Die Kinder benötigen also wesentlich länger, um zu regenerieren und können zudem psychosomatische Reaktionen wie z.B. Kopf- oder Bauchschmerzen zeigen.

Die kognitiven und psychologischen Besonderheiten schließlich (Schwierigkeiten mit dem Gedächtnis, ein verlangsamtes Arbeitstempo, Schwierigkeiten bei der räumlich-visuellen Wahrnehmung) können zur Frustration führen. Kinder mit Spina bifida zeigen häufig Lernschwierigkeiten, die denen bei AD(H)S nicht unähnlich sind.

Überforderung oder Unterforderung?

Manche Kinder mit Spina bifida und Hydrocephalus besuchen aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigung eine Schule für Kinder mit Förderbedarf, da viele Regelschulen z.B. nicht barrierefrei sind, oder es keine Möglichkeit gibt, die notwendige Pflege durchzuführen. Andere besuchen Regelschulen, da ihre körperliche Beeinträchtigung weniger stark ausgeprägt ist.

Herauszufinden, ob die Förderung an der Schule für unser Kind passend ist, ist nicht immer ganz einfach, denn sowohl Überforderung als auch Unterforderung bringen ähnliche Anzeichen mit sich, wie z.B. Konzentrationsabfall, langsames Arbeitstempo und Stimmungsschwankungen. Sowohl Über- als auch Unterforderung führen zu schlechten schulischen Leistungen, auch wenn die Gründe unterschiedlich sind. Während ein Kind, das unterfordert ist, eher aus Langeweile stört und Ablenkung sucht, vielleicht provoziert oder sich zurückzieht, wird ein Kind, das sich überfordert fühlt, eher gereizt sein, sich verweigern und versuchen, den Anforderungen aus dem Weg zu gehen. In beiden Fällen jedoch signalisiert der Körper: „Etwas passt nicht, ich bin nicht zufrieden“ – er steht unter Stress.

Wie können wir helfen?

Es ist sehr wichtig, die individuellen Stärken und Talente der Kinder zu sehen und zu akzeptieren, dass sie einfach anders sind und anders lernen.

Stärken, die viele Kinder mit Spina bifida zeigen, sind ihre schon erwähnte sprachliche Kompetenz. Hinzu kommt, dass sie oftmals sehr empathisch und kontaktfreudig sind und über eine große soziale Kompetenz verfügen. Aufgrund der oftmals zahlreichen überstandenen Herausforderungen verfügen sie über große psychische Widerstandskraft (Resilienz). Auch Humor und Kreativität können im Alltag wichtige Ressourcen sein.

Das Erkennen und Akzeptieren der eigenen Einschränkungen und sich nicht durch sie frustrieren zu lassen, sondern Alternativen zu finden, beschrieb Frau Dr. Zella als einen wichtigen Weg für unsere Kinder. Wir müssen es ihnen ermöglichen, Erfolge zu erleben und diese auch wahrzunehmen.

Ressourcenorientierte Förderung ist hier das Stichwort. Um eigene Stärken zu erkennen kann man zum Beispiel das Kind bitten, jeden Abend drei Dinge aufzuschreiben, die es am Tag gut gemacht hat. Hierdurch kann eine positive Rückkopplung erfolgen: das Bewusstsein für die eigenen Stärken und Fähigkeiten steigt, und das Selbstwertgefühl verbessert sich.

Individuelle Lehrpläne, die übrigens auch an Regelschulen vereinbart werden können, sowie eine Zusatzförderung oder Differenzierung im Lernstoff können helfen, Über- und Unterforderung zu vermeiden. Auch die Art zu lernen kann auf die Bedürfnisse des Kindes angepasst werden. Den Kindern eine stärkere Eigenverantwortung beim Lernen / bei den Hausaufgaben zuzugestehen, kann helfen und das Selbstwertgefühl verbessern.

Last but not least ist es auch hilfreich, wenn es feste Tagesstrukturen gibt. Denn, so Frau Dr. Zella, feste Strukturen bedeuten, dass das Gehirn gewissermaßen im Energiesparmodus laufen kann – ohne sich ständig auf neue Gegebenheiten einstellen zu müssen.

Hier noch ein paar hilfreiche Links:

Zum richtigen Loben und Stärken: https://www.familienportal.nrw/de/6-bis-10-jahre/entwicklung/kinder-staerken

https://www.fritzundfraenzi.ch/7-tipps-wie-sie-das-selbstwertgefuhl-ihres-kindes-starken

https://blog.lebensbruecke.de/start/staerken-kind

zu Lernstrategien

https://www.mit-kindern-lernen.ch/adhs-lernstoerungen/ads/247-kinder-mit-ads-adhs-konzentrieren-sich-anders

gam-medical: 5 Tipps – Lernstrategien bei ADHS