Am 20. April fand in Essen die SBHC-Fachtagung „Fakten Check Spina bifida“ in Essen statt. Wir haben uns über die vielen Teilnehmenden und die rege Beteiligung an den Diskussionen sehr gefreut und bedanken uns an dieser Stelle noch einmal bei den Referentinnen und Referenten für ihren Einsatz und bei allen, die an der Organisation und Durchführung der Veranstaltung mitgewirkt haben.

In unserem Blog werden wir die Vorträge der Veranstaltung nach und nach zusammenfassen – zum Nachlesen für die Teilnehmenden und zur Information für alle, die nicht selbst dabei sein konnten.

Frau Prof. Dr. Martina Messing-Jünger, Chefärztin an der Kinderklinik St. Augustin eröffnete die Tagung mit ihrem Vortrag zu den neurochirurgischen Aspekten bei Spina bifida.

Das erste Thema war die vor- und nachgeburtliche Erstbehandlung bei Spina bifida.

Die sogenannte „two hit hypothesis“, also die zweifache Schädigung, die ein Baby mit Spina bifida bis zu seiner Geburt erfährt, ist der Grund dafür, eine vorgeburtliche Operation bei Spina bifida durchzuführen.

Der „first hit“, also der Defekt durch die unvollständige Schließung der Wirbelbögen und die Fehlbildung des Rückenmarks, ist nicht zu beseitigen oder zu heilen.

Der „second hit“ jedoch im weiteren Verlauf der Schwangerschaft, der entsteht, wenn Liquor (Hirnflüssigkeit) und Fruchtwasser miteinander in Berührung kommen und wenn durch das Austreten von Liquor das Stammhirn in Richtung des Wirbelkanals gezogen wird, kann durch eine intrauterine Operation beeinflusst werden.

Das Ergebnis der viel zitierten MOMS-Studie (zum Nachlesen hier) war, dass die Chiari II Malformation seltener vorkommt, wenn bereits intrauterin eine Deckelung der Zele vorgenommen wurde. Einige andere Ergebnisse mussten im Nachhinein korrigiert werden, aber inzwischen gebe es, so Frau Dr. Messing-Jünger, auch Langzeitstudien, die folgende Ergebnisse zeigen:

Bei vorgeburtlicher Operation der Spina bifida entspricht das Lähmungsniveau in der Regel der anatomischen Höhe, die Gehfähigkeit ist besser, die orthopädischen Komplikationen geringer. Die Hydrocephalus Rate sei nahezu gleich, der HC sei jedoch seltener behandlungspflichtig. Hinsichtlich der Blasen- und Darmproblematik sowie der geistigen Entwicklung zeigen sich keinerlei Unterschiede. Allerdings werden nach pränatalen Behandlungen häufiger Nachoperationen nötig, um Verwachsungen zu lösen und Zysten zu beseitigen.

Die vorgeburtliche Operation kann also zu einer verbesserten Beweglichkeit führen. Nach wie vor sind jedoch die Risiken der intrauterinen OP dagegen abzuwägen. Zum einen ist die Operation selbst problematischer, zum anderen bestehen nach wie vor Risiken wie Frühgeburtlichkeit, erhöhte Sterblichkeit und Uterusschäden.

Sinnvoll ist eine vorgeburtliche Operation bei Spina bifida nur in dem Zeitfenster zwischen der 20. Und 25. Schwangerschaftswoche. Zu einem früheren Zeitpunkt ist der Fetus noch zu klein, und später ist die Schädigung durch das Fruchtwasser, die durch die Operation verhindert werden soll, schon zu weit fortgeschritten. Auch wenn der Hydrocephalus schon zu stark ausgeprägt ist, ist die pränatale OP nicht sinnvoll. Hier ist also eine sehr gute Beratung entscheidend.

Zudem muss die Diagnose eindeutig und bestenfalls durch eine Zweitmeinung bestätigt sein, da es auch Formen der Fehlbildung des Rückenmarks gibt, die fälschlich als Myelomeningozele diagnostiziert werden können: zum Teil sind das Rückenmark und die Rückenmarkshäute als geschlossene Struktur in eine Zele ausgelagert. In diesem Fall wären kaum neurologische Schäden zu erwarten und eine Pränatale Operation daher nicht sinnvoll. (Links: Myelocystozele; terminale Myelocystozele; limitierte dorsale Myeloschisis)

Über die Ultraschalldiagnose hinaus kann die Bestimmung des Wertes von Acetylcholinesterase im Fruchtwasser hinzugezogen werden. Das Enzym wirkt hauptsächlich im Zentralnervensystem, weswegen man von einem vermehrten Vorkommen im Fruchtwasser auf das Vorliegen eines Neuralrohrdefekts schließen kann. Um die nach der Bildgebung erstellte Diagnose abzusichern, ist dieser Test daher vor einer geplanten pränatalen Operation zu empfehlen (Abstract zum Thema AChE als Hinweis auf einen Neuralrohrdefekt)

Den zweite Themenblock bildete der Hydrocephalus. Nach der Geburt wird er entweder durch Fensterung am Boden der dritten Hirnkammer oder durch die Anlage eines Shunts behandelt. Durch eine Fensterung des dritten Ventrikels wird die Erweiterung der Ventrikel jedoch nicht verringert. Die Ventrikelweite und die Masse an weißer Substanz sind jedoch ausschlaggebend für die Vernetzungsmöglichkeiten im Gehirn und somit entscheidend für die geistige Entwicklung.  Daher ist die Anlage eines VP-Shunts (Ableitung des Liquors in den Bauchraum) und darüber hinaus eine genaue neuropsychologische Beobachtung sowie eine Behandlung eines Hydrocephalus auch ohne eindeutige Hirndruckzeichen sehr zu empfehlen.

Durch die Chiari Fehlbildung – im Falle von Spina bifida häufig der Typ II, bei dem Kleinhirn, Hirnstamm, Kleinhirntonsillen und der vierte Ventrikel tiefer liegen, ist der Liquor Abfluss versperrt. Damit verbundene weitere Fehlbildungen des Gehirns (z.B., wenn der Balken nicht richtig ausgebildet ist oder zu viele/zu kleine Hirnwindungen vorhanden sind) können noch hinzukommen und sich auf die geistige Entwicklung auswirken. Eine operative Behandlung der Chiari Fehlbildung (Dekompression am Hinterhauptsloch) sei jedoch in der Regel nicht notwendig, wenn der Hydrocephalus gut versorgt ist. Vorsicht sei allerdings bei neu auftretenden Schmerzen im Nacken oder Hinterkopf, Schlafapnoe oder neu auftretendem Schwindel geboten.

Zusätzlich zu den regelmäßigen Kontrollen beim Augenarzt und der Sonographie (um beim VP-Shunt zu überprüfen, ob sich freie Flüssigkeit im Bauchraum befindet) sollte bei vorliegender Chiari Fehlbildung auch der Besuch im Schlaflabor zu den Routineuntersuchungen hinzukommen.

Abschließend zeigte Frau Dr. Messing-Jünger die Ergebnisse einer Studie, die alle 49 zwischen Januar 2007 und Dezember 2015 an ihrer Klinik nachgeburtlich versorgten Kinder mit Spina bifida umfasste. Danach sind 70% zum jetzigen Zeitpunkt gehfähig (mit oder ohne Hilfsmittel) und alle besuchen eine Regelschule.